Erst vor einigen Tagen (noch vor dem 6. Dezember) saß ich bereits leicht angetrunken in meiner Stammbar in Thessaloniki und diskutierte mit Freunden den Hungerstreik des 21-jährigen Anarchisten Nikos Romanos, der sein Recht auf Hafturlaub zu Bildungszwecken einforderte. Da war noch keine Rede von Fußfessel oder ähnlichem, wohl aber von der Möglichkeit, die Vorlesungen via Videostream zu verfolgen. Die meisten von uns standen in Solidarität mit Nikos Romanos, der wegen eines missglückten Bankraubes zu 16 Jahren hinter schwedischen Gardinen verurteilt wurde. Nikos Romanos war ein guter Freund des 2008 von einem Polizisten ermordeten 15-jährigen Alexis Grigoropoulos, war dabei als dieser erschossen wurde und ist als Sargträger auch auf Fotos der Beerdigung von Alexis zu erkennen.
Am 10. November dieses Jahres verkündete Nikos Romanos, dass er in den Hungerstreik treten werde, um seinem Antrag auf bildungsbedingten Hafturlaub ein wenig mehr Druck zu verleihen. Als dieser Antrag letzte Woche, am 2. Dezember, abgelehnt wurde, kam es zu Straßenschlachten in Athen und anderen Solidaritätsbekundungen in ganz Griechenland und Nikos verlautbarte, dass er „bis zum Sieg oder Tod“ weitermachen würde.
Wir diskutierten also Nikos Haltung und die Reaktionen des „Schweinesystems“, gaben jeder unseren Senf dazu und während wir genüsslich unseren Raki tranken, überlegte man, was wohl die Folgen wären, wenn Romanos sterben würde. Eine seltsam und etwas ekelhaft anmutende Situation, über die positiven und negativen Outcomes des Todes eines Menschen zu philosophieren, der als militanter Anarchist es irgendwie geschafft hatte, sogar Teile der alten bürgerlichen Garde auf seine Seite zu schlagen. Nun bin ich Nikos bestimmt näher, als es der bürgerliche Teil dieser Gesellschaft je sein wird und doch habe auch ich meine Probleme mit so manchen seiner Vorstellungen, was mich aber nicht davon abhält, ihm meine Solidarität auszudrücken. Ich finde seine Texte und Gedanken zum Thema Gefängniskritik sehr gut und unterstütze seine Forderung auf „freien“ Zugang zu Bildung für Gefangene. Und doch war ich von Anfang an skeptisch, was diesen Hungerstreik betrifft. Ich war ganz einfach der festen Überzeugung, dass sich der griechische Staat, wie beinah alle anderen westlichen Staaten auch, nicht durch einen Hungerstreikenden erpressen lassen würde. Ich war mir sicher, dass gerade der griechische Staat es lieber in Kauf nehmen würde, mit erneuten tagelangen Straßenschlachten konfrontiert zu sein, als vor einem militanten Anarchisten in die Knie zu gehen. Ich ging sogar soweit, in der geschlossenen Runde mit Freunden Romanos des Opportunismus zu bezichtigen, weil mich, trotz aller Lebensfreude die Romanos verbreitet, der leise Verdacht beschlich, dass er dem Märtyrerdarsein irgendwie was abgewinnen könne. Und mit Märtyrertum habe ich ganz grundsätzlich ein großes Problem.
Nun, ich wurde in allen Punkten eines Besseren belehrt.
Gestern, nachdem ich auf einer Solidaritätskundgebung für Nikos war, traf ich mich mit einem Freund in besagter Stammbar und natürlich war Romanos das überwiegende Gesprächsthema. Früher an diesem Tag wurde erstmals ernsthaft in Erwägung gezogen, dass Nikos eventuell das Gefängnis mit einer Fußfessel verlassen könnte, um an Vorlesungen an der Uni teil zu nehmen. Wir glaubten noch nicht ganz daran und waren uns auch nicht einig darüber, ob Romanos diesen Kompromiss akzeptieren würde.
Heute, am 31. Tag seines Hungerstreiks, und dem ersten seines Durststreiks, heute, am 10. Dezember 2014, ist der griechische Staat doch vor einem militanten Anarchisten in die Knie gegangen. Und heute hat auch Nikos mich überzeugt, dass er dem suizidal-heldenhaften Märtyrertum nicht soweit verfallen ist, dass er nicht mehr willig wäre, einen kleinen Kompromiss mit diesem Staat, den er so sehr hasst, einzugehen und sein eigenes Leben zu retten. Wäre er gestorben, hätte uns das auch nicht weitergebracht. Im Gegenteil, es wäre die Bestätigung für meine verdrossene, reaktionäre Annahme gewesen, der Staat sei unbezwing- und unbesiegbar. Es wäre, nach einem kurzen Aufflammen von endlichen Straßenkämpfen und Scharmützeln mit der Polizei wohl der Todesstoß für die romantisierte griechische Bewegung gewesen.
Und doch, wenn man die Hintergründe, wie es nun zu dieser politischen Entscheidung kam, Nikos die Fußfessel (nach einem erfolgreichen Semester Fernstudium) zu gewähren genauer betrachtet, taucht manch unangenehme Frage auf, die gestellt werden muss. Die erste und vermutlich offensichtlichste ist wohl jene, ob denn dieses Einlenken der Regierung Samaras tatsächlich ein Sieg für die radikale Linke bedeutet. Ich will nicht bezweifeln, dass Romanos mit seiner Entschlossenheit und Ehrlichkeit als Sieger aus diesem Kampf hervorgeht; und für ihn persönlich ist es ein lebensrettender Erfolg. Doch wer, abgesehen von Nikos selbst, profitiert denn nun eigentlich davon? Und wie kam es zu dieser plötzlichen Kursänderung der Regierung und auch der Haltung von manch rechter Partei?
Nikos Romanos hat in einem seiner ersten Statements relativ klar gemacht, dass die bürgerlichen Parteien, humanistische NGOs und bedauernde Politiker sich ihre Solidarität mit ihm sonst wo hinstecken können. Er glaubte an die Solidarität der Straße (zu Recht, wenn man bedenkt, dass in den letzten Wochen zehntausende Menschen für ihn durch die griechischen Städte marschierten) und der seiner Genossen in den Gefängnissen.
Nun war es aber doch eine dieser bürgerlichen Parteien, die ihm vermutlich das Leben gerettet hat. Genauer gesagt das populistische Links-Bündnis rund um Alexis Tsipras und seiner SYRIZA Partei. Nachdem noch gestern keine Einigung im Parlament auf den Antrag einer Fußfessel erzielt werden konnte, hat heute Morgen Tsipras in einem Telefonat mit dem Präsidenten der Republik diesen aufgefordert, Stellung für das menschliche Leben zu beziehen und verdammt nochmal Nikos Leben über die Grabenkämpfe der Parteien hinweg zu retten. Karolos Papoulias rief daraufhin Premierminister Samaras an und verlangte von diesem, eine menschliche Lösung zu finden und eine Einigung im Parlament zu erzielen. Samaras’ Justizminister hatte bereits einen neuen Vorschlag ausgearbeitet, der schlussendlich heute Mittag unter Applaus der Abgeordneten angenommen wurde. Aber was genau hat sich jetzt seit gestern geändert und warum stimmt das gestern noch zerstrittene Parlament plötzlich vereint für den Hafturlaub von Romanos? Ich kann nur spekulieren, doch ging in all dem Jubel innerhalb der Solidaritätsbewegung, die den Erfolg gleich mal als gewonnen Kampf der radikalen Linken gegen das „Schweinesystem“ verbucht, eines unter: Samaras hat vor zwei Tagen angekündigt, die eigentlich für 2015 geplanten Präsidentschaftswahlen vorzuziehen und noch bis zum 29.12. über den neuen Präsidenten der Republik abstimmen zu lassen. Der Präsident wird in Griechenland vom Parlament gewählt; einem Parlament das seit Jahren kaum mehr eine Einigung erzielen kann. Dass die Notwendige Mehrheit bei den (vermutlich mehreren) Abstimmungen erzielt werden kann, ist möglich, aber sehr fraglich. Im Falle, dass sich die Abgeordneten nicht auf einen neuen Präsidenten einigen können, bedeutet das die nächste Runde des Lieblingsspieles der Griechen: Parlamentswahlen! Sollte es soweit kommen, wird sich so mancher Großunternehmer Griechenlands und Wirtschaftspolitiker der EU mal gehörig ins Hemd machen, während umgekehrt der feuchte Traum der populistischen Neulinken Realität werden könnte. Denn bei Neuwahlen verspricht sich SYRIZA eine große Chance darauf, als Siegerin aus den Wahlen hervorzugehen. Dabei könnte unfreiwillig auch Romanos eine Rolle spielen. Denn schreibt sich SYRIZA diesen Erfolg im „Kampf für das Recht“ des charismatischen Anarchisten auf die eigenen Fahnen, kann sie sich so mancher Stimme und Unterstützung auch aus dem radikalen Lager sicher sein. Und obwohl manche vermuten, dass der Einsatz für einen (nicht verurteilten, aber von manchen doch als solchen bezeichneten) linken Terroristen der Partei mehr schaden könne, als ihr Stimmen bringen, überwiegt momentan in der Bevölkerung doch das Bild des sympathischen jungen Mannes, den die Erfahrung des Todes seines Freundes und das Aufwachsen mit der Krise in die fantastische Welt des Revoluzzertums abrutschen ließ und der ja eigentlich die Welt vor den korrupten Ausbeutern und Marionetten dieses Systems retten wollte. Ein Bild, das auf breite Zustimmung und viel Verständnis stößt.
Ich denke, es bleibt nun vorerst abzuwarten, ob denn auch die Justiz dem Antrag auf die Fußfessel tatsächlich stattgeben wird und wie sich die generelle Lage in diesem sich stetig radikalisierenden Land entwickelt. Wir sollten froh sein, dass Nikos lebt. Wir sollten vor allem auch der breiten Solidarität der Straße dankbar sein, die ihn solange durchhalten ließ. Und wir sollten wachsam sein, wer aus Nikos’ gewonnen Kampf nun Profit schlagen will. Ich hoffe, auch Nikos Romanos bleibt so wachsam und unkorrumpierbar, wie er es bis jetzt war.
Heute werde ich meinen Raki ohne Zweifel auf Nikos trinken, mit dem bitteren Beigeschmack, dass dieser Kampf noch lange nicht vorbei ist.