Der 8. Mai ist ein Tag des Sieges, aber auch der Erinnerung!

Am 8. Mai 2015 jährt sich zum 70. Mal die bedingungslose Kapitulation der Deutschen Wehrmacht. Der sogenannte VE-Day markiert das Ende des nationalsozialistischen Regimes und des 2. Weltkriegs. Es ist ein Tag der Freude und ein Tag des Sieges über die Barbarei der Nationalsozialisten. Und doch ist es auch ein Tag des Gedenkens und ein Tag des Erinnerns. Ein Gedenken an die gefallenen Soldaten der Siegermächte, unter denen die Rote Armee mit Abstand die größte Last des Krieges in Europa zu tragen und mit 13 Millionen gefallenen Soldaten die größten Verluste zu beklagen hatte. Und ein Erinnern. Ein Erinnern an die deutsche Schuld und an die Einzigartigkeit der Schoah.
Gerade in Österreich, wo wir es mit der Aufarbeitung der Verbrechen die unsere Eltern, Großeltern und Urgroßeltern begangen haben, nicht so genau nehmen, ist das Erinnern auch an Tagen des Sieges notwendig,
was der Säureanschlag Ende April auf das „Heldendenkmal der Roten Armee“ am Schwarzenberplatz wieder einmal bestätigt. Der „sekundäre Antisemitismus“, der sich durch Schuld- und Erinnerungsabwehr, Relativierung und Verharmlosung oder Leugnung deutscher Verbrechen auszeichnet, mag mit dem „Fest der Freude“ vom Heldenplatz verbannt sein, doch existiert er in so manchen Köpfen weiter. In Zeiten, in denen die Gräuel der Nazis durch Vergleiche wie mit den Verbrechen des Islamischen Staates, oder einer sogenannten „Israelkritik“ auch von ranghohen Politikern relativiert werden, bedarf es einmal mehr des Hinweises auf die Einzigartigkeit der Schoah. Denn ein Verneinen dieser Singularität ist immer auch die Relativierung der Leiden der Opfer und eine Verhöhnung der Toten.

Auschwitz ist ohne Antisemitismus nicht denkbar.
In seinem Bericht „Ist das ein Mensch?“ beschreibt der italienische Schriftsteller und Chemiker Primo Levi die Lagerhaft in Auschwitz und macht klar, das es den Nationalsozialisten nicht einzig um die Vernichtung der Juden ging, sondern viel mehr darum, ihnen im Moment der Vernichtung jede Form von Menschsein und Würde zu nehmen. Die Verbindung zwischen permanenter Entmenschlichung der Häftlinge und ihrer Vernichtung macht dabei die Singularität aus.
Levi notiert dazu am 26. Jänner 1944, einen Tag vor der Befreiung von Auschwitz: “Mensch ist wer tötet, wer Unrecht zufügt oder erleidet; kein Mensch ist, wer je
imagesde Zurückhaltung verloren hat und sein Bett mit einem Leichnam teilt. Und wer darauf gewartet hat, bis sein Nachbar mit Sterben zu Ende ist, damit er ihm ein Viertel Brot abnehmen kann, der ist, wenngleich ohne Schuld, vom Vorbild des denkenden Menschen weiter entfernt als […] der grausamste Sadist.”
Enzo Traverso, italienischer Historiker und Journalist, schreibt im Hinblick auf das Begreifen der Schoah als eine historische Singularität, dass den “Völkermord an den Jude
n [als] einzigen, bei dem die Vernichtung der Opfer kein Mittel, sondern Selbstzweck war” zu verstehen notwendige Bedingung dafür ist.

Gerne wird gerade im Zuge des „sekundären Antisemitismus“, aber auch im historischen Erinnerungsprozess der Holocaust mit dem Massenmord Stalins und den Lagern in der Sowjetunion verglichen. Vergleicht man aber die Schoah mit dem stalinistischen Massenmord, wird schnell klar, dass der Terror Stalins eine Vernichtung ohne Theorie und Ideologie war. Mehr noch: Der Massenmord stand sogar im krassen Gegensatz zur Leitideologie der Sowjetunion und noch mehr im Widerspruch zu den theoretischen Schriften von Marx, Engels und Lenin.
Stalins Terror galt viel mehr der Sicherung seiner Macht, als einer ideologisch begründeten, ethnischen Vernichtung. Denn dem stalinistischen Massenmorden vielen vor allem jene Menschen zu Opfer, die die politische Elite der Sowjetunion darstellten und aus deren Reihen die einzige ernsthafte Konkurrenz zu Stalin erwachsen konnte. Natürlich waren unter den Opfern der stalinistischen Massenmorde auch viele Bauern, Arbeiter und Intellektuelle. Dies jedoch einzig aus einem paranoiden Wahnsinn heraus, jeden wie auch immer gearteten (vermeintlichen) Widerstand gegen Stalins Herrschaft zu vernichten.
Dagegen folgte die Durchführung der Schoah in ihrer Barbarei der ideologischen Fantasie von der Reinigung des Volkskörpers. Hitlers Versprechen etwa, den rassistischen Antisemitismus und die Vorstellung vieler Deutscher von der Eliminierung der Juden zu befriedigen, zielte darauf ab, die Masse der Deutschen hinter sich zu einen. Die praktische Umsetzung in Form von Deportation und Vernichtung spielte für die deutsche Masse dabei keine wesentliche Rolle, da, wer der deutschen Vorstellung eines lebenswerten Menschen entsprach, eben nicht von Deportation und Vernichtung bedroht war. Damit war die Schoah Selbstzweck und nicht wie das willkürliche Unterdrückungssystem Stalins ein Mittel zur Herrschaftssicherung.
Die Schoah war kein Ausbruch primitiver Gewalt. Sie diente
auch keinem anderen Zweck, als den antisemitischen Wahn vieler Deutscher und Österreicher zu befriedigen.

In der Auseinandersetzung mit dem Holocaust darf die Gegenwart nicht fehlen.
Auch wenn die Schoah heute eine historische Singularität darstellt, also in der bisherigen Menschheitsgeschichte einzigartig ist, kann ihre Wiederholung nicht ausgeschlossen werden und es bedarf einer stetigen Erinnerungskultur um eben eine solche Wiederholung zu verhindern.

 Dabei geht es nicht darum, die Erinnerung zu idealisieren oder die Schoah religiös zu verklären. Auch darf es zu keiner Relativierung anderer Völkermorde oder einer Hierarchisierung der Opfer kommen. Es geht darum, die Hintergründe zu erklären und nach dem Warum zu fragen.
Auschwitz war die Konsequenz
eines rassistischen Antisemitismus, der dem europäischen Bürgertum des frühen 20. Jahrhunderts entsprang. Der christliche Antijudaismus wurde vor allem durch den Wahldeutschen Houston Steward Chamberlain, einem glühenden Verehrer und Schwiegersohn Richard Wagners, in einen rassistischen Antisemitismus transformiert, einer Wandlung, die vor allem in Deutschland große Zustimmung fand. In Chamberlains Ideologie überschneidet sich der traditionelle christliche Antijudaismus mit der sozialdarwinistischen Idee eines „Kampfs ums Dasein“, in dem die Menschheit in miteinander konkurrierende Rassen zerfällt. In dieser Ideologie werden die Juden als jene Rasse identifiziert, deren Existenz das Überleben der anderen Rassen bedrohen. Die Lösung liegt bereits bei Chamberlain in der Vernichtung der Juden. Sein Konzept des rassistischen Antisemitismus könnte man als eine Fluchtbewegung aus bürgerlichen und wissenschaftlichen Zwängen deuten. Chamberlain flüchtete sich in eine scheinbar intellektuelle, völkische, künstliche Gedankenwelt, fern von wissenschaftlicher Rationalität und tatsächlichem Intellekt. Dies macht und machte seine Ideen jedoch nicht weniger gefährlich und populär.
In der Auseinandersetzung mit der Schoah und dem Holocaust darf das Wissen über den modernen, rassistischen Antisemitismus nicht fehlen. Auch darf der Blick auf den wieder steigenden Antisemitismus in Europa nicht fehlen. Wenn heute Terroristen Anschläge auf jüdische Einrichtungen durchführen, jüdische Supermärkte angegriffen werden, Juden auf offener Straße beschimpft werden, einzig weil sie Juden sind, steckt hinter alldem ein antisemitisches Moti
v. Der Versuch, eben die jüngsten antisemitischen Attentate mit der Bombardierung des Gazastreifens durch Israel zu erklären, kommt einer Täter-Opfer-Umkehr gleich. Wer meint, rassistischen Antisemitismus mit einer vermeintlichen „Israelkritik“ relativieren zu müssen, relativiert damit in konsequenter Weise auch die Opfer der Schoah und begibt sich auf den Pfad der antisemitischen Weisheit „Was er glaubt ist einerlei, im Blute liegt die Schweinerei“.

Dem islamistischen Antisemitismus muss gleich wie dem europäischen Einhalt geboten werden.
Der israelische Historiker Yehuda Bauer hat den radikalen Islamismus, neben dem europäischen Faschismus und dem Stalinismus, als dritte große totalitäre Bewegung bezeichnet. Der Islamismus sieht im Koran eine Anleitung für eine gerechte Gesellschaft, die den Kapitalismus einschränkt und auf absoluter Autorität aufbaut. Diese Weltanschauung unterscheidet sich von jener sozialdarwinistischen des modernen rassistischen Antisemitismus nur durch ihren Inhalt. Die Formen aber, sich aufgrund eines unum
stößlichen Gesetzes einer demokratischen Entscheidungsfindung zu entziehen und den (gottgegebenen) Auftrag wenn nötig mit terroristischen Mitteln durchzuführen, gleichen sich. Während der Koran in Bezug auf das Judentum teils in polemischem Stil zwischen einer Rhetorik des Verfluchens und Verzeihens schwankt, filtert der radikale Islamismus die negativsten antijüdischen Aussagen aus dem Koran heraus und verfestigt sie zu einem rassistischen Stereotyp. Fantasien von der Vernichtung Israels und einer judenfreien arabischen Welt, sowie Überzeugungen, dass ein Verschwinden Israels von der Landkarte den Frieden im Nahen Osten sichern würde, führen in ihrer Konsequenz zu einer erneuten Verfolgung und Vernichtung von Juden.
Die Brisanz der gegenwärtigen Situation in Europa, dass sich der ethnologisch-rassistische Antisemitismu
s mit jenem islamistisch-rassitischen überschneidet und eine gemeinsame Hetze gegen Juden betrieben wird, schafft ein Klima, das bereits mehrere Tausend europäische Juden in die Flucht getrieben hat. Wir müssen daher einerseits die geschichtsrevisionistische Verharmlosung oder gar Verleugnung des Holocausts bekämpfen und die Singularität der Schoah anerkennen und gleichzeitig uns gegen eine antisemitische Erlösungstheorie, in Form der sogenannten „Israelkritik“, die über die Grenze einer kritischen Haltung gegenüber dem Zionismus weit hinausgeht, zur Wehr setzen.
Feiern wir also den 8. Mai als einen Tag der Freude und Befreiung von der Barbarei. Aber denken wir auch an Adornos Maxime: „Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.“

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